Veranstaltung: | Landesdelegiertenkonferenz 23.09.2023 |
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Tagesordnungspunkt: | 11. Verschiedene Anträge (V-Anträge) |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz LV MV |
Beschlossen am: | 23.09.2023 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Zwangsausgesiedelte als SED-Opfer anerkennen
Beschlusstext
Die Landesdelegiertenkonferenz stellt fest, dass die vom "Ministerium für
Staatssicherheit" geplanten und durch die Volkspolizei durchgeführten Aktionen
"Grenze" vom Mai/Juni 1952 im damaligen Grenzgebiet zu Schleswig-Holstein und
Niedersachsen (in Thüringen „Ungeziefer genannt) und "Osten" in den damaligen
DDR-Bezirken Rostock und Schwerin am 3. Oktober 1961 (insgesamt „Festigung“
genannt) reine Vertreibungsaktionen waren und nur zufällig zu Enteignungen
führten. Betroffen waren als politisch unzuverlässig geltende Personen mitsamt
ihren Familien. Durch die SED-Propaganda wurden sie als „Kriminelle“ oder
„Asoziale“ gebrandmarkt.
Die Landesdelegiertenkonferenz stellt fest, dass diese Einstufung willkürlich
erfolgte, basierend auf Beobachtungsnotizen der Polizei. Vor allem waren
alteingesessene Familien betroffen, die ein Handwerk, Landwirtschaft oder
Gewerbe betrieben, über Westkontakte verfügten, aktive Kirchenmitglieder waren
und sich negativ über den SED-Staat geäußert hatten.
Die betroffenen Familien sind 1952 nachts mit unbekanntem Ziel per Bahn
abtransportiert worden, für Hab und Gut stand ein halber Waggon zur Verfügung.
Im Landesinneren wurden ihnen infolge der großen Wohnungsnot meist
Hilfsquartiere (schnell umfunktionierte Lagerräume, sogar Stallgebäude) zur
Verfügung gestellt. In den neuen Wohnorten wurde kolportiert, es handele sich
bei den neuen Mitbürger*innen um Schwerkriminelle, was ihnen die Aufnahme eines
normalen sozialen Lebens stark erschwerte und dazu führte, ihr Schicksal zu
verschweigen. Sie waren jahrelangen Reglementierungen, Repressionen,
Bespitzelungen und Schikanen ausgesetzt. Im Zusammenhang mit der
Zwangsaussiedlung sind 1952 fünf vollzogene und auch 1961 zahlreiche versuchte
Suizide dokumentiert. Weil die Frage nach dem WARUM und eine gute Sozialisierung
im neuen Wohnort ausblieben, ist das Trauma schwer zu verarbeiten. Betroffen
waren ca. 3,5 % der Bevölkerung im 5-km-Sperrgebiet.
Die Landesdelegiertenkonferenz fordert die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN dazu auf, sich für eine öffentliche Anerkennung der Zwangsausgesiedelten
als Opfer des SED-Unrechtsregimes einzusetzen und ihre erlittenen seelischen
Leiden mit einer angemessenen Einmalzahlung zu würdigen.
Begründung
Das Unrecht des SED-Regimes hat viele Gesichter, und dessen Aufarbeitung in all seinen Facetten ist ein wesentlicher Bestandteil bei der Aufarbeitung unserer eigenen Vergangenheit. Als Partei, deren Wurzeln in der DDR-Bürgerrechtsbewegung liegen, ist es unsere Aufgabe, den verschiedenen Betroffenengruppen beizustehen und sie im Kampf um die Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechtes und den daraus entstandene seelischen Leiden zu unterstützen.
In weiten Teilen der heutigen Bevölkerung hält sich immer noch die Erzählung der SED-Propaganda, dass es bei den damaligen Aussiedlungen aus dem 1952 errichteten 5-km-Sperrgebiet um „pioniertechnische Maßnahmen zur Sicherung der innerdeutschen Grenze“ oder um eine Enteignungsaktion gehandelt habe. Die Häuser und Wohnungen der Betroffenen wurden aber anschließend wieder normal bewohnt.
Die fehlende öffentliche Anerkennung des erlittenen Unrechtes vergrößert die seelischen Leiden der Betroffenen und hält die SED-Lügenpropaganda am Leben. Beides gilt es zu beenden, damit Betroffene mit dem eigenen, erzwungenen Schicksal besser leben können und die Aufarbeitung unserer gesamtgesellschaftlichen Diktaturerfahrung einen weiteren Schritt vorankommt.